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Bindungsblog

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Impulsiv, unreflektiert und egozentrisch – Warum sind kleine Kinder so?


Tobias (4) spielt gedankenversunken im Sandkasten. Auf einmal blickt er auf und sieht, dass sich seine Schwester Neele (2) seiner Sandburg nähert. Oh nein, sie wird sie bestimmt kaputt machen! Er springt auf, läuft auf Neele zu und schubst sie kräftig, so dass sie auf den Hosenboden plumpst und laut zu weinen beginnt. Aufgeregt kommt die Mama angelaufen und schimpft: „Tobi, was soll das?? Warum tust du deiner Schwester weh? Und das mit voller Absicht!?? Los, entschuldige dich sofort bei ihr!“ Dabei fragt sie sich: „Warum tut er das?? Selbst wenn sie seine Sandburg beschädigt, er kann Anderen doch nicht nach Gutdünken weh tun! Vor allem Schwächeren! Wie kann ich dieses Verhalten nur abstellen?“ Was Tobias‘ Mutter nicht weiß:


Das kindliche Gehirn ist unreif…

Bei der Geburt ist das Gehirn der am wenigsten entwickelte Körperteil. Es braucht durchschnittlich fünf bis sieben Jahre gesunder Entwicklung, damit die verschiedenen Teile des Gehirns untereinander eine Kommunikation aufbauen können.

Ganz vereinfacht kann man sagen: die beiden Gehirnhälften links (Denken und Sprechen) und rechts (Fühlen) müssen erst Wege der Kommunikation miteinander aufbauen. Vor allem in den ersten drei Jahren dominiert dabei die rechte, „emotionale“ Gehirnhälfte. Nach dem Beginn der „Kommunikation“ der beiden Gehirnhälften beginnt dann zwischen fünf und sieben Jahren die Integration des präfrontalen Kortex. Dieser ist unter anderem für folgende Fähigkeiten zuständig: Selbstbeherrschung, moralisches Denken, Perspektivenwechsel, Empathie, Konzentration und die Fähigkeit, widersprüchliche Gedanken und Gefühle zu verarbeiten. Er hilft uns also dabei, Gefühle zu steuern und aggressive Impulse zu beherrschen. Wenn der präfrontale Kortex erfolgreich integriert werden kann entwickelt sich ein ausgeglichener Charakter und auch das Gewissen.


Was bedeutet es nun, wenn im Gehirn des Kleinkindes vor allem die emotionale rechte Gehirnhälfte sein Tun steuert? Sie reagiert schnell auf Reize und hilft Kindern wie Erwachsenen, bei Gefahr blitzartig zu reagieren. Allein, Kinder können dies noch nicht mit Hilfe der linken Gehirnhälfte einordnen. Das Kind hat also zum Beispiel ein Gefühl, kann es aber weder benennen, noch weiß es, wie es mit diesem Gefühl umgehen soll. Durch diese Unreife des kindlichen Gehirns in den ersten Lebensjahren, gerät es leicht in Stress und ist mit starken Gefühlen schnell überfordert. Schon bei – in unseren Augen – „Kleinigkeiten“, wie etwa der Ankündigung des Verlassens des Spielplatzes oder der Aufforderung zum Teilen eines Spielzeugs kann das Kind in Rage geraten. Es ist daher auf Fremdregulation angewiesen, also eine erwachsene Person, die dem Kind hilft, seine Gefühle zu verstehen und zu verarbeiten. Wie sieht das eben Beschriebene aber jetzt konkret in der Praxis aus?


Unreife in der Praxis
  • Das Kind kann sich nicht in andere hineinversetzen (Perspektivwechsel) und daher auch nicht empathisch sein. Es wirkt manchmal so, als wäre unser Kind empathisch, es bringt dem Baby ein Spielzeug, wenn es weint - und 10 Minuten später haut es dem Baby mit dem Spielzeugauto auf den Kopf. Wo ist seine Empathie geblieben? Natürlich hat auch ein kleines Kind Gefühle der Liebe und Fürsorge. Dies ist aber keine echte Empathie. Denn wenn es frustriert oder neugierig auf die Reaktion des Babys ist, denkt es nicht daran, dass z.B. Hauen dem Baby wehtun könnte. Ohne den präfrontalen Kortex kann ein Kind nicht aus der Sicht Anderer auf Situationen blicken und daraus Mitgefühl entwickeln. Es kann nur aus der eigenen Perspektive heraus handeln.

  • Das Kind ist impulsiv und kann sich nicht kontrollieren. Wenn es wütend ist, schlägt es zu, ohne darüber nachzudenken. Um dem Impuls des Zuschlagens nicht nachzugeben, braucht es Selbstbeherrschung und die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig zu denken: „Ich bin wütend und will zuhauen, aber ich habe meine Schwester lieb und mache es doch nicht.“ Ein Kind hat kein innerliches ABER: es fühlt nur ein Gefühl im Moment und es ist gesteuert von seinen starken Impulsen, Emotionen und Bedürfnissen. Das Gehirn ist überfordert mit den starken Reizen und handelt im Affekt (die Amygdala, unser Alarmsystem, übernimmt das Ruder) ohne den Verstand (linke Gehirnhälfte) benutzen zu können. Das Kind entscheidet sich also nicht bewusst, gewalttätig zu sein.

  • Das Kind kann sich nur auf eine Sache fokussieren. Wenn es spielt, dann spielt es. Es ignoriert das Rufen der Eltern aus dem anderen Zimmer nicht absichtlich. Aus demselben Grund fokussiert es sich auch immer nur auf eine Person. Wenn der Papa von der Arbeit kommt, ist der Papa cool und die Mama überflüssig, oder nur die Mama allein darf es ins Bett bringen. Das bedeutet nicht, dass das Kind die Anderen wirklich blöd findet. Sein Gehirn funktioniert anfangs einfach so. Es fokussiert sich auf eine Person/Sache, um sie vollständig und in der Tiefe zu begreifen.

  • Das Kind ist nicht konsequent im Einhalten von Regeln und Versprechungen. Um Regeln umfassend zu verstehen, muss ein Mensch zwei Dinge gleichzeitig denken oder fühlen können. Zum Beispiel: Ich möchte unbedingt Süßigkeiten essen, aber ich darf jetzt keine haben, weil ich gerade Zähne geputzt habe. Eine Zeitlang kann das Kind sich bemühen, aber wenn zwei gegensätzliche, starke Impulse im unreifen Gehirn zusammentreffen, kann nur einer tatsächlich registriert werden. Es findet kein zeitgleiches Verarbeiten der zwei Gedanken statt, was dazu führen würde, die Regel trotz des Wunsches nach Süßigkeiten einzuhalten. Das Kind möchte nicht provozieren oder bewusst die Regeln brechen, auch wenn wir das oft schlussfolgern.

  • Das Kind kann sich nicht selbstständig und aus innerer Überzeugung an gesellschaftliche „Regeln“ halten. Für uns Eltern ist es wichtig, dass unser Kind andere Menschen begrüßt, sich für ein Geschenk bedankt oder sich entschuldigt, wenn es jemanden verletzt. Dies wird von der Umwelt und von uns Eltern erwartet, aber ein Kind hat diese Impulse noch nicht. Sie setzen Reife voraus. Um sich etwa von Herzen entschuldigen zu können, muss man sich in den Anderen hineinversetzen können und Mitgefühl sowie ein schlechtes Gewissen haben können.

Die Lösung

Tobi aus unserem Eingangsbeispiel denkt nur an seine Sandburg. Dass sein Schubsen eine Entschuldigung nötig machen könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Mehrere Aspekte der Unreife treten hier zutage: er ist nur darauf fokussiert, dass seine Burg heil bleibt und kann sich nicht in seine Schwester einfühlen, deren Po nach dem Schubs vielleicht schmerzt. Seine Mama kann ihn jetzt natürlich dazu bringen, sich zu entschuldigen (strenger Blick, Tonfall, Androhung von Strafe etc.). Schließlich hat er „Schuld“ und muss diese Schuld bereinigen. So eine erzwungene Entschuldigung kommt aber nie aus dem Herzen, sie ist nicht „echt“. Entschuldigungen müssen IMMER freiwillig geschehen und dazu sind unreife Kinder noch nicht fähig. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir das verletzte Opfer ohne Entschuldigung stehenlassen, weil das verursachende Kind noch nicht reif genug dafür ist. Für gute Beziehungen und für ein reines Gewissen sind Schuldbekenntnisse natürlich nötig. Aber wir als reife Eltern sind für die Schuld unserer Kinder verantwortlich, solange diese ihre Schuld noch nicht selbst einsehen und tragen können. Anstatt das Kind also zu beschämen und zu Etwas zu zwingen, das nicht ehrlich aus ihm selbst herauskommt, entschuldigen wir uns als Eltern beim verletzen Kind an seiner statt. Wir überbrücken die Unreife des Kindes mit unserer Reife. Wir bleiben in Verbindung und sind so Vorbild für richtiges Handeln, das unsere Kinder (freiwillig und mit zunehmender Reife) nachahmen können.

Solange wir mit unserem Kind mit dem Band der bedingungslosen Liebe verbunden sind, wird unser Kind auf uns schauen und sich von Herzen danach sehnen, uns ähnlich zu werden. Weil es ihm in den ersten sieben Jahren aufgrund seiner Unreife nicht gelingen wird, übernimm du bis dahin die Verantwortung.


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